DAS BIEST A

Ein Rechercheprojekt inspiriert von Ruth Rendells "Urteil in Stein"

Anne Schneider

Freitag, 26.02.2016 | 20:15 Uhr
Samstag, 27.02.2016 | 20:15 Uhr
Donnerstag, 03.03.2016 | 20:15 Uhr
Freitag, 04.03.2016 | 20:15 Uhr
Samstag, 05.03.2016 | 20:15 Uhr

(c) Daniela Incoronato

„Zwei formidable Schauspielerinnen und eine phänomenale Bühnenbildskulptur.“ (Zitty) / „Ein sehr starker Theaterabend.“ (Neues Deutschland)

Eunice und Joan eint ein besonderes Schicksal: Zwischen ihnen und dem Rest der Gesellschaft klafft ein tiefer Abgrund. Die neuen Arbeitgeber von Eunice sehen in ihr vor allem eins: eine fl eißige und arbeitswillige Haushälterin. Doch die große Dankbarkeit der Familie droht ein gut gehütetes Geheimnis zu entlarven. Zunehmend in die Enge getrieben, findet Eunice Halt bei Joan – ein Drahtseilakt zwischen Selbstbehauptung, inniger Verbundenheit
und Überlebensdrang führt in die unabwendbare Katastrophe.

Sieben Millionen Erwachsene in Deutschland sind in Deutschland von Analphabetismus betroffen. Ihr Leben ist oftmals geprägt von sozialer Ausgrenzung und Selbstisolation – Angst, Scham und soziale Abhängigkeiten beherrschen das Lebensgefühl.

Anne Schneider inszeniert regelmäßig am Ballhaus Ost und am Theater unterm Dach, Berlin. Das Biest A ist die zweite Produktion, die in Kooperation mit dem LICHTHOF Theater entsteht. Neben ihrer Regietätigkeit ist sie als Künstlerische Leiterin von HAUPTSACHE FREI – Festival der Darstellenden Künste Hamburgs tätig. Mit Rachelle Pouplier sprach sie im LICHTHOF Interview über die Entstehung des Stücks, systemische Ausgrenzung von Betroffenen und ihre Inszenierungsideen

Mit Sabine Werner und Wicki Kalaitzi

Regie: Anne Schneider
Ausstattung: Giulia Paolucci
Malerei: Nikos Kalaitzis
Musik: Christian Ziegler und Martin Glos
Licht: Eduardo Abdala
Dramaturgie: Anik Feit
Produktonsleitung: Kaja Jakstat (Zwei Eulen)
Regieassistenz: Majeed Akarah und Esther Zimmering

Am 05. März lädt der Verein der Freunde und Förderer des LICHTHOF e.V im Anschluss an die Vorstellung zum Publikumsgespräch ein.

Eine Koproduktion mit dem Theater unterm Dach und dem LICHTHOF Theater. Gefördert aus Mitteln des Regierenden Bürgermeisters von Berlin – Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, durch die Freie und Hansestadt Hamburg, Kulturbehörde Hamburg, das Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kunst und Kultur, Bezirksamt Pankow, die Hamburgische Kulturstiftung und die Rudolf Augstein Stiftung.

LICHTHOF Interview

„SICH DURCHS LEBEN HANGELN“

Anne Schneider | Die Ursprungsidee entstand auf der Seite der beiden Schauspielerinnen, Sabine Werner und Wicki Kalaitzi, die vor längerer Zeit zusammen am Schauspiel Dresden engagiert waren und auch eine Zeit lang zusammen gewohnt haben. Es gibt den Film „Biester“ von Claude Chabrol, der auf dem Roman „Urteil in Stein“ von Ruth Rendell basiert. Den Roman hatten beide schon damals in den Händen und in diesem Zusammenhang hatten sie auch über eine Dramatisierung nachgedacht. Ich habe mit Sabine Werner die Produktion „Desaster“ (ebenfalls am Lichthof Theater) inszeniert. Nach dieser Arbeit sind die beiden auf mich zugekommen und haben mich gefragt, ob ich dieses Projekt mit ihnen machen will. Wir begannen mit den ersten Ideen, so hat sich das nach und nach entwickelt.

Hattest du persönlich einen Bezug zu der Problematik oder warum hat der Analphabetismus dich als Thema gereizt?

Nein. Im Gegenteil, ich bin immer ein sprach- und schriftbegeisterter Mensch gewesen. Das war stets das Fach, was mir in der Schule am leichtesten fiel, mit Rechtschreibung hatte ich nie Probleme. Umso größer war die Neugier zu erfahren, wie es ist, wenn einem dieses System völlig fremd bleibt und nicht erschließbar ist. Im weiteren Bekanntenkreis gibt es natürlich Leute, deren Kinder Legasthenie haben und mit dieser Problematik sehr viel vertrauter sind, aber ich hatte diese Verbindung erst einmal nicht.

Und wie hast du dich damit vertraut gemacht? Es ist ein Rechercheprojekt.

Genau. Es gibt verschiedene Verbände, Organisationen, wie den Verein Lesen und Schreiben e.V. oder den Arbeitskreis Orientierung und Bildung. Über diese beiden haben wir Menschen kennen gelernt, die betroffen sind.

Man spricht in diesem Kontext eher von Lese-Schreibschwäche als von Analphabetismus. Für mich war es erst einmal spannend zu gucken, wie entsteht eine Lese-Schreibschwäche überhaupt. Bei unserem Schulsystem kann man sich so schwer vorstellen, dass Menschen durchs Leben kommen ohne Lesen und Schreiben zu können.

Neueste Studien gehen davon aus, dass bei Betroffenen ein Teil des Gehirns anders funktioniert und daraus bestimmte Schwierigkeiten resultieren. Das heißt, es entstehen Probleme, Beziehungen zwischen einzelnen Buchstaben oder auch Wörtern herzustellen. Funktionale Analphabeten können oftmals einzelne Buchstaben oder auch einzelne Wörter erkennen, aber wenn diese hintereinander stehen, erschließen sie nicht den Bedeutungszusammenhang. Manche beschreiben auch, dass die Buchstaben anfangen, sich zu bewegen vorm Auge oder verschwimmen. Ein Betroffener hat sich z.B. die Buchstaben erlaufen. Er hatte Schwierigkeiten, die Buchstaben zu fassen zu kriegen, hat sich die Buchstaben dann auf den Fußboden gemalt und ist sie abgelaufen. Darüber hat er sie verstanden.

Dann ist die nächste Frage, wie gehen die Eltern oder das ganze soziale Umfeld mit der Lese-Schreibschwäche um? Oft verschärfen sich die Schwierigkeiten, beispielsweise in einem Elternhaus, das sowieso kein großes Interesse an Schrift hat. Es gibt viele Kinder, die noch nie ein Buch in der Hand hatten, wenn sie in die erste Klasse kommen. Das Problem wird also zunehmend verstärkt, auch dadurch, dass erste Ausgrenzungserfahrungen entstehen, wenn Leute sich über einen lustig machen. Also entwickeln die Betroffenen Vermeidungsstrategien.

Der Roman ist wirklich wahnsinnig gut recherchiert. Auch wenn uns die Geschichte erst einmal weit weg von uns selbst erscheinen mag, sind die Probleme von der Hauptfigur Eunice sehr real. Es gibt Menschen, bei denen nicht einmal der Ehepartner weiß, dass er oder sie eine Lese-/Schreibschwäche hat. Man versucht alles, damit andere nicht merken, dass mit einem etwas nicht stimmt. Viele haben erzählt, welche Sprüche sie sich in der Schule anhören mussten, wie „Bist du behindert oder was?“ oder „Lern erstmal schreiben.“

Sind das auch Themen, die dich als Mutter interessieren?

Meine 6jährige kommt jetzt in die Schule und ich verstehe das natürlich als einen Auftrag als Mutter, meinen Kindern beizubringen, dass Menschen sehr unterschiedlich sind. Manche können bestimmte Sachen, die andere nicht können und die können wiederum Dinge, die andere nicht können.

Das fiel uns bei einem Spaziergang auf, den wir mit einer Betroffenen gemacht haben. Sie hatte ein wahnsinnig starkes photographisches Gedächtnis und konnte sich Dinge merken, bei denen wären wir total überfordert. Sie beschrieb es so: „Ich schieße die ganze Zeit in meinen Gedanken Fotos, diese kann ich abrufen und so weiß ich, wo ich lang muss.“ Formen und Farben spielen da eine große Rolle.

Dadurch entstand unsere Überlegung einen Maler mit auf die Bühne zu nehmen. Wir nahmen noch ein Medium hinzu, das wahrscheinlich näher an den Betroffenen dran ist. Gleichzeitig ist die Malerei ebenfalls ein System, das sich Vielen nicht sofort erschließt. Da steht man auch manchmal davor und denkt: „Ich versteh es nicht!“ Das ist vielleicht ein ähnliches Gefühl, das Menschen mit Lese-Schreibschwäche bei einem Blatt Papier mit Buchstaben haben.

Mit welchen weiteren Mitteln konntet ihr die Hilflosigkeit der Figuren, das Gefühl der gesellschaftlichen Ausgrenzung, symbolisch umsetzen?

Es gibt das, wie ich finde, sehr starke Bühnenbild, entwickelt von Giulia Paolucci. Eine Holzkonstruktion, die wie ein Raster aufgebaut ist. Auf diesem Raster bewegen sich die beiden Figuren und hangeln sich durchs Leben. Man kann aus dem Raster fallen – sinnbildlich gesprochen. Man steckt aber auch in seinen Rollen fest. Gleichzeitig ist es auch ein abgesteckter Rahmen, ein wiederkehrendes Muster bei den Betroffenen: Sie kennen ihre Straßen, ihre nähere Umgebung. Dort finden sie sich zurecht. Ansonsten bewegen sie sich eigentlich nur im allerschlimmsten Notfall darüber hinaus.

Was uns auch viel Spaß gemacht hat, ist die Sound-Installation, die die beiden Darstellerinnen bedienen und selbst bespielen. Betroffene, die sich das Stück angesehen haben, haben dies als sehr eindrucksvoll beschrieben. In einer Szene hätten sie sich ausdrücklich wieder erkannt: Eunice fragt am Bahnhof, wo der Zug abfährt, sie bekommt die Antwort: „Da steht’s doch! Was ist das Problem!?“ Da konnten wir sehr schön mit der Sound-Installation arbeiten.

Nikos Kalaitzis geht vor allem dem Inneren der beiden Figuren auf der malerischen Ebene nach. Es gibt viel tropfende Farbe – den Tropen auf dem heißen Stein, der sich anstaut und ansammelt. Eunice gerät immer mehr in die Enge, weil ihr Geheimnis aufzufliegen droht. Durch diese zusätzlichen Mittel lässt sich ihre Scham und der zunehmende Druck denke ich sehr gut nachempfinden.
Was ich an dem Text sehr spannend fand, war die Darstellung der Familie. Das ist nämlich die Ebene, die mich betrifft. Es geht um die Art und Weise, mit der ich auf Menschen zugehe, bei denen ich das Gefühl habe, die sind schwächer, ich muss denen helfen. Es wird deutlich, wie schnell man durch seine gutgemeinte Hilfe bevormundend und herablassend sein kann und eine vorhandene Scham noch verstärkt, aus dem Unvermögen heraus, die Perspektive des Anderen einzunehmen.

Lässt sich dieses Unvermögen sich auf den anderen einzulassen auch noch weiter übertragen?

Ich selbst vermag das nicht zu sagen. Ich fand es aber sehr interessant, dass einer der Berliner Kritiker meinte, dass alle Menschen, die jetzt Deutsch für Geflüchtete unterrichten, diesen Abend sehen sollten. Ich fand toll, dass sich so eine Allgemeinübertragung anbietet. Aber das ist individuell sehr unterschiedlich, was jeder Zuschauer für sich mitnimmt.

 

Was machen für dich die beiden Darstellerinnen aus?

Das Besondere ist, dass die beiden sich vorher schon kannten. Der Roman ist auch die Geschichte einer Freundschaft. Daher war es natürlich super, dass bei Sabine und Wicki schon eine Vertrautheit vorhanden war. Bei einer Probe können so ganz andere Dinge entstehen. Mit Sabine habe ich wie gesagt schon gearbeitet und natürlich fließt das auch immer in die Arbeit mit ein. Theater hat sehr viel mit Vertrauen zu tun. Ich habe die Proben mit den beiden als sehr offen, konstruktiv und auch mutig empfunden.

Was ich an dem Text sehr spannend fand, war die Darstellung der Familie. Das ist nämlich die Ebene, die mich betrifft. Es geht um die Art und Weise, mit der ich auf Menschen zugehe, bei denen ich das Gefühl habe, die sind schwächer, ich muss denen helfen. Es wird deutlich, wie schnell man durch seine gutgemeinte Hilfe bevormundend und herablassend sein kann und eine vorhandene Scham noch verstärkt, aus dem Unvermögen heraus, die Perspektive des Anderen einzunehmen.

Wie denkst du wird Analphabetismus wahrgenommen?

Gar nicht. Natürlich rede ich immer wieder mit Menschen darüber und wenn ich dann Zahlen nenne – 7,5 Millionen in Deutschland – dann fällt allen erst einmal die Kinnlade runter. Es gab eine Titelseite in Berlin, auf denen stand: „Jeder 7. Berliner kann das, was hier steht nicht lesen.“ Das hält erst einmal niemand für möglich. Ich habe nach Vorstellungen Gespräche geführt, zum Beispiel mit Ärztinnen und Erzieherinnen, die durch das Stück realisiert haben, dass vermutlich viele Eltern, mit denen sie arbeiten, betroffen sein könnten. Ich glaube, dass das Thema eine sehr geringe Verankerung im Bewusstsein der Bevölkerung hat. Es gibt wohl auch daher gerade eine große Initiative vom Bildungsministerium zu diesem Thema.

Gab es einen bestimmten Fall, der dich besonders bewegt hat?

Auf eine bestimmte Weise waren alle sehr bewegend. Es gibt ein junges Mädchen, mit dem wir gesprochen haben. In ihrer Schulzeit musste sie sehr viele Medikamente nehmen, weshalb sie oftmals nicht zum Unterricht gehen konnte. Sie ist sehr fit und aufgeschlossen. Man merkt aber wie sich die Erfahrungen der Ausgrenzung in ihrem Körper und ihrem ganzen Wesen niedergeschlagen haben.

Die allgemeine Beobachtung war, dass die Betroffenen anderen Menschen sehr ausgeliefert sind. Sie sind darauf angewiesen, dass ihnen jemand hilft. Meistens haben sie eine Person (oder manchmal auch zwei), der sie komplett vertrauen, die sie überall hinbringt, die sie aus allen Notfallsituationen herauslotst und Sachen unterschreibt. Manche haben den falschen Menschen vertraut und sind wahnsinnig ausgenutzt worden – wirklich sehr bewegende Geschichten, die wie da gehört haben!

Es ist wahrscheinlich auch eine riesige Hemmschwelle in so einer Situation überhaupt nach Hilfe zu fragen.

Dafür sind natürlich die Vereine und Organisationen da, damit du hingehen kannst, Hilfe bekommst und lesen und schreiben lernst. Viele haben erzählt, dass seit dem Moment, in dem sie sich geoutet haben, ihr Leben viel leichter und angenehmer ist, weil es natürlich wahnsinnig anstrengend ist, das immer zu verstecken.

Wolltet ihr mit BiestA aktiv etwas erreichen oder bewegen?

Das hoffe ich natürlich immer mit meiner Arbeit. Ich arbeite immer an gesellschaftspolitischen Themen und häufig mit Außenseiterrollen. Es ist auf jeden Fall ein Antrieb die Menschen zu sensibilisieren und Themen ins Bewusstsein zu rufen, die überhaupt nicht vorkommen.